"Michel Piccoli war einer der vollkommensten und vielseitigsten Schauspieler des französischen Kinos", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Bekanntgabe dessen Todes am Montag, den 18. Mai. Der produktive Schauspieler, Charakterdarsteller und Regisseur Michel Piccoli verstarb am Dienstag, dem 12. Mai, im Alter von 94 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der sogenannten „7. Kunst“ in Frankreich mit herausragenden Werken wie Le Mépris, Le journal d'une femme de chambre und La Grande Bouffe.
"Der Schauspieler muss Unbehagen erzeugen. Das Publikum muss auf die Probe gestellt werden, das Publikum muss über den Schauspieler entsetzt sein". Dieses Zitat aus Minetti (1977), einem Stück des berühmten österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard, erregte besondere Resonanz, als es im Januar 2009 im Théâtre national de la Colline vom großen Meister Michel Piccoli vorgetragen wurde. Damals 83-jährig gehörte der Schauspieler zu jenen, die intellektuell herauszufordern und emotional tief zu berühren verstehen, sowohl durch sein Charisma als auch durch die schier unglaubliche Leichtigkeit, mit der er in jede erdenkliche Rolle schlüpfte. Auf der Bühne verkörperte Piccoli Figuren von Koltès bis König Lear, in über 150 Filmen auf der großen Leinwand versuchte er sich in allen Genres und spielte an der Seite der ganz Großen seiner Zeit, was ihn zur Ikone der Dreißiger Jahre („TrenteGlorieuses“) werden ließ.
Michel Piccoli wurde 1925am zweitenTag nach Weihnachten als Sohn eines italienischen Geigers und einer französischen Pianistin in Paris geboren. Über seine Eltern sagte er, sie seien "Musiker ohne Leidenschaft" gewesen und dass sie für ihn als aufstrebenden Schauspieler ein Anti-Vorbild verkörpert hätten. Dieses mondäne familiäre Umfeld war wohl ursächlich für seinekonstante Ablehnung der Bourgeoisie und ihrer Werte, die er als engstirnig und reaktionär betrachtete, sowie für sein Engagement auf Seiten der Linken, das er zeitlebens fortführte, ohne jemals einer Partei beizutreten.
Zu Kriegsende 1945 war er zwanzig Jahre alt und begann seine Schauspielkarriere am Theater mit der Kompanie Renaud-Barrault und im Kino in Le Point du jour (1949) von Louis Daquin. Das darauffolgende Jahrzehnt öffnete ihm alle Türen. Im Herzen von Saint-Germain-des-Prés lernte er Jean-Paul Sartre und Boris Vian kennen sowie Juliette Gréco, die er 1966 heiratete. Erstmals bekannt geworden war er im Kino in Jean-Pierre Melvilles Le Doulos (1962), im Jahr darauf erlangte er dank seiner Verkörperung des Pariser Drehbuchautors Paul Javal in Jean-Luc Godards Le Mépris (1963) wahren Ruhm.
Michel Piccoli drehte anschließend mit einigen der größten französischen und europäischen Filmemacher: Jean Renoir, Alain Resnais, Jacques Demy, Michel Deville, Agnès Varda, Claude Sautet, Alfred Hitchcock, Marco Ferreri und Louis Buñuel, mit dem er über zwanzig Jahre lang zusammenarbeitete. Gemeinsam drehten sie sechs Filme: Le Journal d'une femme de chambre (1964), Belle de jour (1967), La Voie lactée (1969), Le Charme discret de la bourgeoisie (1972), Le Fantôme de la liberté (1974) undCet obscur objet du désir (1977). Auf der Leinwand umarmte Michel Piccoli die größten Schauspielerinnen seiner Zeit: Brigitte Bardot, Catherine Deneuve und Romy Schneider.
Das Theater, das er als seinen "eigentlichen Beruf" betrachtete, gab er trotz großer Kinoerfolge niemals auf. Er stand unter der Regie der ganz Großen auf der Bühne: Peter Brook, Patrice Chéreau, Luc Bondy, u.a.. 1997 begann er mit seinem ersten Spielfilm, Alors voilà, seine Karriere als Regisseur. Eine seiner letzten großen Rollen war die des zweifelnden Papstes in Nanni Morettis Habemus Papam, der 2011 bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde.
Im Jahr 2015, kurz vor seinem 90. Geburtstag, veröffentlichte der Schauspieler im VerlagGrasset seine Autobiografie. Vor dem Tod habe er Angst, schreibt er. Nach mehr als 70 Jahren im Rampenlicht hatte sich der Schauspieler von der Bühne zurückgezogen. Der Tod dieses großen Mannes wird nicht das Ende seiner Strahlkraft sein und seine Bedeutung nicht schmälern. Seine Filme gemahnen uns daran, angesichts der Konflikte und Herausforderungen der Gegenwart stets wachsam zu bleiben.