Carina Sacher hat Architektur in Wien und Versailles studiert. Zuletzt war sie drei Jahre Assistentin am Lehrstuhl von der französischen Architektin Anne Lacaton an der ETH Zürich, die gemeinsam mit Jean-Philippe Vassal mit Projekten wie der Renovierung des Palais de Tokyo in Paris oder der Sanierung zahlreicher Sozialwohnungen internationale Anerkennung gefunden hat. Dieses Wintersemester lehrt Carina Sacher am Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Im Interview erzählt sie von ihrer besonderen Beziehung zu Frankreich und stellt ihre Forschungsarbeit über prekäres Wohnen in transitorischen Orten wie den „hôtels meublés" vor.
Können Sie sich vorstellen: was und wo haben Sie studiert? Wo arbeiten Sie heute?
An der TU Wien habe ich Architektur studiert, mit einem Erasmus-Jahr an der École Nationale Supérieure d’Architecture in Versailles. Wichtig waren die neben dem Studium gemachten Arbeitserfahrungen in verschiedenen Büros in Wien und Paris. Das „Stöbern“ half mir im Laufe des Studiums zu filtern, wo meine Leidenschaften und Interessen liegen, welche Wege es wert sind, auszuprobieren.
Meine Tätigkeit setzt sich aus Entwurf, Text, Forschung, Ausstellung und Lehre zusammen. Dabei suche ich immer Schnittstellen der Architektur- und Stadtforschung zu anderen Disziplinen. Dieses Wintersemester beschäftige ich mich zusammen mit Lukas Vejnik und Studierenden der Angewandten Kulturwissenschaften der Alpen-Adria Universität Klagenfurt mit Abriss und Neubau im gemeinnützigen Wohnbau. Dabei geht es darum, die Qualitäten des Bestandes zu benennen sowie Hintergründe dieser Praxis, Herausforderungen und Folgen zu untersuchen.
Warum haben Sie sich entschieden in Frankreich zu studieren? Welche Erfahrungen haben Sie in Frankreich gemacht?
Seit Beginn des Architekturstudiums war es mein Wunsch, bei Lacaton & Vassal zu arbeiten. Das erfüllte sich dank des TISCHE-Stipendiums des Bundeskanzleramts Österreich, welches die Berufserfahrung im Ausland von jungen Absolvent*innen der Architektur fördert. Ich blieb länger als geplant und war drei Jahre Assistentin von Anne Lacaton an der ETH Zürich, was meine Erfahrung bereicherte.
Der intensive Austausch und die Aufenthalte in Paris haben vor über zehn Jahren begonnen. Nach einem kurzen Praktikum bei Édouard François, entschied ich mich für ein Erasmus-Jahr an der ENSA Versailles. Es ist eine kleine Fakultät mit Ateliers unter einem Dach und einer guten Auswahl von Theoriekursen. Danach ließ mich die Stadt nicht mehr los, weshalb ich noch während des Studiums immer wieder mehrere Monate für die Arbeit und für die Forschung zur Abschlussarbeit nach Paris ging.
Sie haben Ihre Diplomarbeit über die „hôtels meublés“ im Pariser Viertel La Goutte-d'Or geschrieben. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Ich besuchte einen Freund in einem Viersternehotel, wo er damals als Rezeptionist arbeitete. Kurz darauf erschien ein Mann, der sich erkundigte, wie viel ein Zimmer für ein Monat koste. Das war überraschend. Die hohe Summe schockierte ihn, woraufhin er enttäuscht das Hotel verließ. Ich lief ihm nach und fragte, was er suche. Er sei vor einigen Tagen aus Bangladesch mit einem Touristenvisum nach Frankreich gekommen und ihm sei gesagt worden, dass er in Paris billig im Hotel wohnen könne.
Erst als ich ein Jahr später auf zwei wesentliche Publikationen, Une chambre en ville von Claire Lévy-Vroelant und Alain Faure sowie die Studie Les hôtels meublés à Paris von Lévy-Vroelant und Stéphanie Jankel, stieß, wurde mir klar, was der Mann suchte: ein hôtel meublé, ein Hotel ohne Sterne. Es sind Hotels, von denen Paris und andere ehemalige französische Industriestädte voll waren, da sie als Ankunftsorte für die zugezogenen Menschen dienten. Ein Bruchteil dessen prägt heute noch so manche Viertel und Straßen. Sie sind unscheinbar und unterscheiden sich nicht von den umgebenden Wohnhäusern. Einzig das Schild „Hotel“ und die Plakatierung der Zimmerpreise verraten ihre Existenz. Häufig ist eine kleine Café-Bar im Erdgeschoss, der Kellner hinter dem comptoir ist meist der Hotelier. Keiner aus meinem Pariser Bekanntenkreis wusste etwas über sie. Forschungen über diese Orte, welche unter anderem als Notunterkünfte genutzt werden, gab es bis dato hauptsächlich zu ihrer Geschichte oder aus soziologischer und ethnographischer Perspektive.
Die Goutte-d’Or, das nördlich gelegene Pariser Viertel mit dem höchsten Anteil an hôtels meublés, wurde damals in großen Zügen saniert und erneuert. Mich interessierte es, wie die Stadterneuerung und der damit steigende Druck auf Boden und Immobilien die hôtels meublés und ihr Geschäft beeinflussen. In der öffentlichen Meinung werden sie weitgehend als unhygienische, von marchand du sommeil betriebene und prekäre Unterkünfte dargestellt. Die Diplomarbeit mit dem Titel „Willkommen in den Hôtels meublés!“ war ein Versuch, die Stigmatisierung zu hinterfragen und die Orte, welche eine wichtige Rolle für den bedingungslosen Zugang zu einer Unterkunft einnehmen, auf ihre räumlichen und sozialen Potentiale hin zu untersuchen.
Letztes Jahr habe ich gemeinsam mit dem Stadtforschungsmagazin dérive eine Schwerpunktausgabe herausgegeben. Sie thematisiert die Prekarisierung einer steigenden Bevölkerung, insbesondere Kinder in Familien oder mit alleinstehendem Elternteil, die in derartigen Transitorten wohnen. Die Ausgabe versammelt internationale Beiträge zu diesem Thema: über die sogenannte „soziale“ Hotellerie in der Île-de-France ; die Herausforderungen der leistbaren Wohnräume in alten SRO (single room occupancy) Hotels in der Region San Francisco hinsichtlich des Drucks am Immobilienmarkt; die Zunahme einer vergessenen Bevölkerung in den obsolet gewordenen nordamerikanischen Motels; der Anstieg Wohnungsloser in Irland, welche sich in bed&breakfast Unterkünften und Hotels wiederfinden; und ein Einblick in das von mehr als 500 Personen besetzte 4-Stelle-Hotel im Außenbezirk von Rom.